Von Elena Hong
Die gelungene Mischung aus Vortrag, Bild und Kommentar machte die Lesung am 14. November zum erfolgreichen Geburtstagsfest des Schweizer Autors Gottfried Keller. Mit 50 ZuhörerInnen war der Saal des Katholischen Stadthauses (Laurentiusstr. 7) bis in die hintersten Reihen gefüllt. Im Anschluss durfte das Publikum die drei Referenten auf dem Podium mit Fragen löchern.
Unterhaltung für alle Sinne

Olaf Reitz vor Publikum (Bild: Buchhandlung von Mackensen)
Mit seiner warmen Bass-Stimme erweckte Olaf Reitz die berühmte Novelle „Kleider machen Leute“ zum Leben. Der Sprecher und Schauspieler las Auszüge der Erzählung, die dem Publikum von Prof. Dr. Wolfgang Lukas verständlich aufgeschlüsselt und fachlich pointiert kommentiert wurden. Abgerundet wurde das Trio auf der Bühne von der Wuppertaler Künstlerin Ulrike Möltgen, die zu den jeweiligen Szenen im Text faszinierende Bilder und Collagen entworfen hatte. Die Veranstaltung war eine Kooperation des Katholischen Bildungswerks, der Buchhandlung v. Mackensen und der Bergischen Universität Wuppertal.
Wolfgang Lukas im Interview
„Was sind Glück und Leben?“
… lautet eine zentrale Frage der erstmals 1874 veröffentlichten Erzählung „Kleider machen Leute“. Denn ob Glück von materiellen Umständen oder dem sozialen Status abhängt, weiß zumindest jeder, der schon einmal hungern musste. So ist der arbeitslose Schneidergeselle Wenzel, der Protagonist der Erzählung, ein typischer Verlierer-Kandidat, mit dem es das Leben nicht besonders gut gemeint hat. Doch das Blatt wendet sich plötzlich, als er einen Mantel findet, der ihn wie einen reichen polnischen Grafen aussehen lässt. Wie der Titel programmatisch verrät, widerfahren ihm aufgrund seines neuen äußeren Erscheinungsbildes gleich mehrere glückliche Zufälle: Zunächst wird er in einem Gasthaus des Dorfes Goldach empfangen, fast königlich bedient und einquartiert. Im Folgenden lernt er die Tochter des Amtsrates kennen, die sich auch noch unsterblich in den mittellosen Schneider verliebt, unwissend um seine wahre Identität. Wenzel schafft es, die Fassade aufrecht zu erhalten, bis sein Heimatdorf beschließt, ihn in aller Öffentlichkeit zu verraten.
„Ich will mit dir gehen“
… trotz allem, so lautet die Antwort Nettchens, als ihr Verlobter ihr den Betrug beichtet. Na also doch, ein Happy End wie es im Bilderbuch steht, möchte man sagen und bis heute den Leser rührt und zum Träumen verleitet. Wie gut, dass nicht die Rache siegt, sondern die Liebe, das Mitleid und die Ehrlichkeit. Doch ganz so einfach ist es nicht: Denn ein bürgerliches Leben bringt Pflichten mit sich und der lang ersehnte Wohlstand will auch erst verdient sein. Wolfgang Lukas sieht in dieser Desillusionierung die Überwindung der Romantik hin zur bürgerlichen Realität, was aus der heutigen Perspektive gewissermaßen als „modernes Märchen“ gedeutet werden kann.
Du bist, wie du dich gibst
Nicht erst seit dem Kultfilm „Plötzlich Prinzessin“ oder dem Musical „My Fair Lady“ ist die Diskussion um die sogenannte „Soziosemiotik“ (Lehre der sozialen Zeichen) salonfähig. Vornehm ist, wer sich vornehm benimmt? Und reich, wer sich schön kleidet? Die Differenz von Schein und Sein ist schon seit dem Mittelalter ein echter Dauerbrenner in der deutschen Literatur. Zeichen werden anders interpretiert als gemeint, Missverständnisse entstehen, falsche Realitäten werden geglaubt durch geschickte, gewollte oder ungewollte „optische Täuschungen“. Ein Thema, das – wie Keller zeigt – nicht nur äußerst humorvoll erzählt werden kann, sondern auch zum ernsthaften Nachdenken anregt. Denn obwohl feudale Strukturen für den zeitgenössischen Leser archaisch und längst überwunden scheinen, macht die Frage nach Zeichen in der Postmoderne noch immer Sinn. Würde man selbst beispielsweise der Versuchung eines sozialen Aufstiegs widerstehen? Rechtfertigt Existenznot „Notlügen“? Wo sind Autos vielleicht schon mehr Status- als Gebrauchsobjekte und Dresscodes reines Distinktionsmerkmal?

V.l.: Ulrike Möltgen und Prof. Dr. Wolfgang Lukas im Gespräch (Bild: Buchhandlung von Mackensen)
Wolfgang Lukas im Interview
Olaf Reitz im Interview
in Abend, der dringend Lust macht, Kellers Novelle wieder hervorzuholen und sich die amüsante Geschichte noch einmal zu Gemüte zu führen. Wer den Klassiker noch nicht im Regal stehen hat, dem sei die neue Ausgabe des Suhrkamp Verlags mit Illustrationen von Ulrike Möltgen empfohlen.