von Larissa Plath
Die eigene Geschichte ist das, wozu man sie macht. „Endet unsere Geschichte hier?“, fragt sich die Ich-Erzählerin Timna, als sie zusammen mit ihrer Schwester den kranken Vater über Monate hinweg täglich im Krankenhaus besucht. Bei Dana von Suffrin liegt dort der Ausgangspunkt ihres Romans Otto, in dem die Vergangenheit der Figuren immer gegenwärtig ist. Im Rahmen einer Lesung und eines ergänzenden Gesprächs mit der Literaturwissenschaftlerin Dr. Luisa Banki gab die Autorin an einem Abend Ende Januar nicht nur Einblicke in die Welt von Otto und seinen beiden Töchtern, sondern auch in den Entstehungsprozess ihres literarischen Debüts.
„Wieso schreibst du nicht einen Roman über unserer Familie?“. Nicht als Frage, sondern als eine Art getarnten Befehl formuliert Otto sein Vorhaben, oder, wie seine Tochter Timna es ausdrückt, als „schöne Bitte“. Eine Gesprächskunst, die Otto, „Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter“, über die Jahre hinweg perfektioniert hat und wohlüberlegt – man könnte auch sagen manipulativ – einsetzt. Otto stammt aus Siebenbürgen, ist pensionierter Ingenieur, alt, krank, herrisch und noch so vieles mehr. Als titelgebender Protagonist und Mittelpunkt von Dana von Suffrins Roman steht und fällt seine Geschichte und die seiner Familie mit Ottos Erinnerungen und den Schwierigkeiten, diese in Worte zu fassen.

Dr. Dana von Suffrin während der Lesung ihres Romans „Otto“ (Bild: Sebastian Schulz)
Statt des oftmals stereotypen Bildes einer jüdischen Mutter wird ein Familienpatriarch präsentiert, dessen tyrannisches Verhalten durch seine Krankheit nicht gebrochen, sondern eher verstärkt wird. Die Vater-Tochter-Beziehung wird noch intensiver, als Timna zur unfreiwilligen Chronistin der Geschichte auserkoren wird. Eine Extremsituation, die Otto laut von Suffrin womöglich weniger zu einem Familien- als zu einem „Anti-Familienroman“ macht, gleichzeitig aber auch die erzählerischen Lücken in der Biographie des Protagonisten legitimiert.
Dr. Dana von Suffrin im Interview.

Dr. Luisa Banki (Bild: Sebastian Schulz)
Otto möchte seine Erinnerungen festgehalten wissen, aber sein Hang zum „romancieren“, seine teils erfundenen Fakten, Erlebnisse oder Anekdoten, machen es Timna nicht leicht, sich im Chaos der Erinnerungen zurechtzufinden. Luisa Banki beschreibt die Form des Romans als Collage, als assoziative Verbindung von Anekdoten. Ottos Biographie ist keine chronologische Abfolge von Ereignissen, eben weil keine Lebensgeschichte den Anspruch auf Eindeutigkeit erfüllen kann. Genau diese Fragen nach der (Un-)Zuverlässigkeit von Erinnerungen und der (Un-)Möglichkeit, eine Form zu finden, um die eigene Vergangenheit und die anderer aufzuschreiben, macht Dana von Suffrin am Beispiel ihres Protagonisten Otto zum Thema. Banki betont besonders die Vielschichtigkeit, die der Roman durch die explizite Thematisierung von Erinnerungen erhält.
Dr. Luisa Banki im Interview.
Als Historikerin findet die 1985 in München geborene Dana von Suffrin bei ihren Recherchen in Nachlässen und Archiven, speziell zur deutsch-jüdischen Geschichte, Inspiration für ihr literarisches Schaffen. Die Unzuverlässigkeit von Biographien und die Mechanismen einer individuellen Identitätsstiftung sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. So lässt sich die Geschichte von Otto als eine prototypische, jüdische männliche Biographie lesen, in der die Autorin aber auch Anleihen bei der Lebensgeschichte ihres Vaters macht und diese in fiktionalisierter Weise wiedergibt. Als (Auto-)Biographie ihres Vaters möchte Dana von Suffrin Otto nicht verstanden wissen – der Zusatz „Roman“ auf dem Titel kommt nicht von ungefähr –, jedoch lassen einige Fragen des Publikums erahnen, dass mögliche Parallelen zwischen der Lebensgeschichte der Autorin und der ihrer literarischen Figuren für reges Interesse sorgen. Das Schreiben, so erklärt von Suffrin im Gespräch, habe für sie immer einen autobiographischen Anteil, sei eine Art Filter der eigenen Wahrnehmung. Anekdoten ihres Vaters, die in den Roman eingeflossen sind, habe sie keinem Tagebuch entnehmen können, sie seien vielmehr ein „Wissen der Generationen“. Dichtung und Wahrheit liegen hier eng beieinander: Dort, wo man als Historikerin auf vorliegende Quellen angewiesen ist, kann man als Literatin den Fortgang der Geschichte nach eigenem Ermessen gestalten.
Es scheint schwierig und wenig angebracht, das Debüt der Autorin in eine bestimmte Kategorie einordnen zu wollen, dafür bringt ihr Roman zu viele verschiedene Elemente zusammen. Die allgemeine Rezeption verortet Otto oftmals im Kontext der jüdischen Literatur. Die Geschichte der ostjüdischen Verfolgung und der Antisemitismus der Kommunisten bestimmen Ottos Biographie, es geht um familiären und historischen Ballast, den jüdischen Alltag und Traditionen. Ottos Siebenbürger-Deutsch prägt den Klang des Romans ebenso wie der humorvolle Grundton. Aber so, wie sich laut von Suffrin die Erzählerin Timna in ihrer fehlenden Zugehörigkeit „zwischen den Stühlen“ fühlt, so bewegt sich auch der Roman selbst im positiven Sinne in einem Raum dazwischen.
Otto wurde nach seinem Erscheinen 2019 unter anderem mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis für das beste Romandebüt des Jahres ausgezeichnet, ein Hörbuch und eine Verfilmung des prämierten Romans sind in Planung. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit an der LMU München arbeitet Dana von Suffrin zurzeit gemeinsam mit zwei anderen Autoren an einem Drehbuch für eine Serie. Und was kommt nach Otto? Ob und wann es einen nächsten Roman geben wird, verrät die Autorin nicht. Bis dahin kann man Ottos „schöner Bitte“ nachkommen und seine Geschichte lesen – es lohnt sich!
Die Lesung fand im Katholischen Stadthaus statt und war eine Kooperation des Katholischen Bildungswerks, der Bergischen Universität Wuppertal und der Begegnungsstätte Alte Synagoge.